Deutschlands erster Landesbunker ist auch der letzteAusweichsitz Nordrhein-Westfalen

Zur Geschichte des Ausweichsitzes Nordrhein-Westfalen

Bundesweit kommt dem Ausweichsitz Nordrhein-Westfalen eine Ausnahmerolle zu: Im Kalten Krieg ist es der erste Bunker einer Landesregierung, der gebaut wird, heute der einzige im Originalzustand erhaltene. Besucher der Dokumentationsstätte gehen hier auf Zeitreise – zurück ins Jahr 1960 ...

1960. Die Bundesländer stehen in der Pflicht: Für den Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung werden sie durch das Bundesinnenministerium aufgefordert, eine Planung für den Notstand vorzulegen. Krisenstäbe sollen nach vorgeschriebenen Organigrammen und Kennziffernplänen die Landeshauptstädte verlassen und in verbunkerte Ausweichsitze wechseln. Aus denen soll geschützt weitergearbeitet werden.

Allein aus finanziellem Aspekt für die Landesregierungen eine unangenehme Aufgabenstellung. So ein Bunker kostet bereits damals mindestens 10 Millionen Mark (nach heutigen Maßstäben ca. 40 Mio. Euro), je nach Ausstattung gestaltet sich die Preisskala nach oben offen. Der Bund schrieb vor, Geld gab es allerdings nicht. Und so begann die große Suche nach einem Ort, der idealer weise Kostenverträglichkeit, bauliche Mindestansprüche wie auch Geheimhaltung miteinander verband.

Nordrhein-Westfalen geht es 1962 als erstes Bundesland an. Bemerkenswerterweise meldet man nach Bonn den Vollzug, nicht aber die Adresse, denn ein geheimes Schreiben aus Düsseldorf vermerkt: „Die Errichtung eines Schutzbaus ist geplant, die Bauarbeiten haben vor drei Monaten begonnen. Zugrunde gelegt ist das Modell der Luftschutz-Warnämter, jedoch abgewandelt auf die andersartigen Bedürfnisse einer Befehlsstelle“. Und weiter: Die Landesregierung sieht einen sicheren „Schutz gegen die Nahwirkung einer konventionellen 1000-kg-Bombe“, begründet den mit „Umfassungsmauern in alle Richtungen von 3 Metern“. Bunker und Sendestelle im Umfeld sind geplant für 10 Mio. Mark, der Rohbau soll dabei acht Mio. kosten.

Was unter höchster Geheimhaltung entsteht, gibt es bis zum heutigen Tag - eingerichtet und (fast vollständig) einsatzbereit. 35 Kilometer vom Bunker der Bundesregierung entfernt, über Jahrzehnte fernab jeder öffentlichen Wahrnehmung, schlummerte der Ausweichsitz am Ortsrand von Urft (bei Kall) vor sich hin. Und gibt heute als Zeitzeugnis tiefe Einblicke in die Ängste vor einem Atomkrieg vor 40 Jahren und den Versuch, sich davor zu schützen. Funktional und technisch so eingerichtet, dass die Grundbedürfnisse im Kriegsfall bedient werden können, fehlt jede Spur von Luxus. Die Anlage erinnert in ihrem technischen Aufbau an ein U-Boot – und hätte eine ähnliche Funktion im 3. Weltkrieg gehabt: Abtauchen und unentdeckt aus der Tiefe operieren.

Schön ist ein solcher Bunker nicht, aber bis zum heutigen Tag wirkt die Einrichtung grundsolide und spult nach Jahrzehnten ihr Programm runter. In den WDR-Schnittplätzen liegen noch immer die Magnetbänder, angerollt und abspielbereit, für welchen Ernstfall auch immer. Auch der Zugang durch eine Doppelgarage funktioniert noch immer und lässt bereits beim Betreten einen Schauer von Geheimhaltung spüren.

Letzte Bonner Durchsage

Der Eiserne Vorhang fällt 1989, als ein Teil der Deutschen ihre Regierung hinterfragt und diese den Entwicklungen um „Glasnost“ und „Perestroika“ nichts entgegensetzen kann. Das Ende des Kalten Krieges überrollt in einer Novembernacht die internationale Politik und schafft ganz neue Verhältnisse: In Europa kehrt, fast 45 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges, wirklich Frieden ein.

Doch nicht überall ist 1993 - im längst wiedervereinigten Deutschland - der Kalte Krieg zu Ende. Erst am 13. Januar 1993 erreicht die Bundesländer ein Schreiben von Bundesinnenminister Rudolf Seiters, das als Verschlusssache mitteilt: „Die Bundesregierung hat entschieden, den Ausweichsitz für Verfassungsorgane in der Nähe von Bonn betriebs- und einsatzbereit zu halten“. Nicht zuletzt die „hohen Kosten, die für den Ausweichsitz des Bundes aufgebracht wurden“, spielen eine Rolle für diese Entscheidung. Allerdings stellt Seiters und sein Ministerium den Länderkollegen die weitere Nutzung ihrer Ausweichsitze frei.

Die Bundesländer antworten – sehr schnell und fast einheitlich: Die Ausweichsitze werden aufgegeben.

Auch Nordrhein-Westfalen meldet zügig den Vollzug und verabschiedet sich von seinem unterirdischen Krisenreich bei Urft. Es beginnt ein Verkaufsmarathon, der sich bis 1997 hinzieht. Schließlich erwirbt die Familie des ehemaligen Verwalters des Ausweichsitzes das Objekt und macht – nichts!

Abgesehen von der Lüftung, herrscht Totenstille im 1.300 Quadratmeter großen Bunker mit seinen vier Etagen. Licht aus und Tür zu. Die Zeit blieb einfach stehen – ein Segen für die Zukunft als Dokumentationsstätte.

Atomare Rollenspiele

Und so liegt im sanitären Vorratslager noch immer die Großkundenlieferung Klopapier vom 2. September 1966 originalverpackt, hergestellt in einem Werk bei Nürnberg in der Zeit, als die Postleitzahl noch vierstellig war. Im Studio des WDR warten ganz andere Rollen auf ihren Einsatz. Eingelegt in der Technik eines kompletten, funktionsfähigen Sendestudios, gibt es hier fabrikneue Magnetbänder, die seit einigen Jahrzehnten aus dem Handel verschwunden sind. Durchmesser 30 cm, Bandbreite fünf Millimeter – ein Dinosaurier der elektronischen Kommunikation, der bis zu seinem Dienstende 1993 jederzeit startklar war – mit einer finalen Botschaft: Das Programm für den nächsten Weltkrieg hat sich erstaunlich gut gehalten.

Wie man den Kriegsfall von hier gestalten würde, probte die Landesregierung mit ihrem Krisenstab zwischen 1966 und 1989 alle zwei Jahre im Rahmen der NATO-Übungen WINTEX/CIMEX/FALLEX. Dann lief der ungewöhnliche Verwaltungsapparat an, der Atombombeneinsätze auf nordrhein-westfälischem Boden notierte, deren Auswirkungen auf die Bevölkerung hochrechnete und entsprechende Schutzmaßnahmen ausgab. Ein bizarres Schauspiel aus Tod und Flucht, das die Versorgung der Zivilbevölkerung, die Lenkung von Flüchtlingsströmen bis hin zur juristischen Absicherung aller Entscheidungen einschloss, die in diesem Extremfall im Bunker der Landesregierung getroffen wurden.

Dr. Heinz Middelhoff, über 20 Jahre leitender Mitarbeiter im Katastrophenschutzreferat des Landes Nordrhein-Westfalen, hat an diesen Übungen im Ausweichsitz mehrfach teilgenommen. „Die Übungen fanden parallel zu den Stabsübungen im Regierungsbunker statt und dauerten für uns in der Regel zwei, drei Tage. Die Anreise zum Landesbunker erfolgte mit dem Bus. 30 bis 40 Mitarbeiter verschiedener Landeseinrichtungen und Ministerien rückten dann in der Anlage ein und sollten eigentlich im Übungsverlauf auch nicht den Bau verlassen. Nachts haben wir dann aber trotzdem für ein paar Minuten frische Luft geschnappt.“ Die Kurzausflüge nur in der Dunkelheit erklärten sich darin, dass „die Leute im Ort nicht mitbekommen sollten, dass der Bunker belegt war.“ Schmunzelnd stellt Heinz Middelhoff fast 30 Jahre nach seiner letzten Übung fest: „Ich denke, die wussten schon vorher ganz genau, wann mit unserem Kommen zu rechnen war“. Über alles, was mit dem Bunker zu tun hatte, legte Düsseldorf den großen Schleier der Geheimhaltung. Entsprechende Fragen während der Bauzeit, die natürlich in Urft jeder wahrnahm, wurden mit dem Bau eines „Warnamtes Eifel“ beantwortet. Selbst die Legende vom aufwändigen Wasserwerk machte die Runde.

Die bei den Übungen gesammelten Eindrücke beschreibt Heinz Middelhoff heute so: „Wir haben das alles ernst genommen, was aber auch einschloss, dass man sich mit der Frage, was wir hier im Ernstfall managen würden, nicht auseinander setzte. Das konnte man sich einfach nicht vorstellen. Da Draußen wäre ja nichts mehr gewesen, was man als ziviles Leben zu organisieren hätte. Im Übungsverlauf ging es bei uns um die Anforderung einer Hilfseinheit, die Verschüttete bergen sollte. Mit dem Ernstfall, das wusste jeder, würde das nicht viel zu tun haben. Und auch die Frage, was mit uns am Ende passieren sollte, wurde verdrängt“.

Einmaliges Zeugnis auf Zeitreise

Der auf Zeitreise geschickte Bunker hat als wertvoller Zeitzeuge einen handfesten Teil des Kalten Krieges bewahrt. So geben immer noch Funkbücher präzise Angaben über Kontakte und Inhalte der Kommunikation, ist in den Betriebsbüchern der Telefonanlage vermerkt, wann mitten in der Nacht das Telefonnetz probehalber auf den Kriegszustand umgestellt wurde. So am 9. Januar 1985 über vier Stationen direkt ins Innenministerium Düsseldorf, „Fernsprecher 6 77 – 87 09“. Leitungslänge: 163 km.

Nicht ganz so lang war die Standleitung zum Regierungsbunker im Ahrtal. Einer der zahlreichen Telefonapparate im Landesbunker verrät bis zum heutigen Tag, mit wem man im Ernstfall direkt verbunden war. Auf dem Gerät ohne Wahlscheibe steht: „Hörer abnehmen und nach Meldung der Vermittlung Teilnehmer verlangen. Es können erreicht werden: Bund, Land Hessen, Land Niedersachsen, Reg. Präs. Detmold“. Auf einem Schrank daneben liegt bis heute „K 804“. Gar nicht mal verstaubt und als Verschlusssache so zu lesen, als sei es gestern in die Folien eingelegt worden, gibt es interessante Übersichten zu den Anschlüssen an die „Befehlsstellen der Landesregierung und der Regierungspräsidenten, Warnämter und Fernmeldedienst der Polizei NW“. Auf den letzten Seiten enthält das Werk sogar sämtliche landesseitige Organigramme für den Krisenfall.

Einen Hauch von James Bond haben sich die Bunkerbauer beim ganz realen Zu- und Abgang gegönnt: Der erfolgt über eine Doppelgarage, dort durch einen kleinen Seiteneingang, in der Garage durch die Wand wechseln und rechts hinten unter der Erde verschwinden. Das versprach bereits beim Betreten: Auf den Besucher wartet ein großes Erlebnis. Ab sofort wird es Ernst ...

Eröffnung als Dokumentationsstätte

Das können Besucher der Dokumentationsstätte ab sofort alles selber erleben. Die „atomtechnokratische“ Einrichtung beeindruckt. In Führungen werden die Gäste informiert, welcher Raum welche Aufgabe hatte. Es gibt tiefe Einblicke in das politische Krisenmanagement des 3. Weltkrieges.

Über Monate wurde die neue Aufgabe des Bunkers als Dokumentationsstätte vorbereitet – u.a. in Zusammenarbeit mit der „Dokumentationsstätte Regierungsbunker, Bad Neuenahr-Ahrweiler“, in der seit März 2008 wertvolle Erfahrungen zum museumspädagogischen Ansatz gesammelt wurden. Wertvolle Informationen lieferten darüber hinaus Zeitzeugen, die den Bunker und seine Aufgabe, alle Abläufe in dieser geheimen Welt, aus der Praxis kennen. Nicht zuletzt der hohe Aufwand und das starke Engagement der Familie Röhling als Eigentümer des Betonkolosses steht für eine erstklassige Vorarbeit auf der Reise vom Bunker zur Dokumentationsstätte, die am 15. August 2009 mit der feierlichen Eröffnung vollzogen wurde.


Anfahrt

Dokumentationsstätte Ausweichsitz Nordrhein-Westfalen

Am Gillesbach 1
53925 Kall-Urft

Hier können Sie eine Routenberechnung durchführen


Eintritt

Termine:

www.ausweichsitz-nrw.de/veranstaltungen/fuehrungen/bunkerpur

Telefon: 02441/ 775171

E-Mail: info@ausweichsitz-nrw.de

Eintrittspreise:

Einzelbesucher 10 €uro/Person
Kinder bis einschl. 14 Jahre 5 €uro/Person

Fotoerlaubnis nur an speziellen Tagen, Termine siehe www.ausweichsitz-nrw.de


Anmeldung

Mehr Informationen und Anmeldemöglichkeiten zur „Dokumentationsstätte Ausweichsitz" bietet die Internetseite des Trägers www.ausweichsitz-nrw.de.